Paolo Sorrentino, Regisseur und Drehbuchautor, wurde 1970 in Neapel geboren.
2001 wurde sein erster Langspielfilm, L’UOMO IN PIÙ, mit Toni Servillo und Andrea Renzi bei den Filmfestspielen in Venedig gezeigt. 2004 ist er mit seinem darauffolgenden Film LE CONSEGUENZE DELL’AMORE im Wettbewerb der Filmfestspiele in Cannes vertreten und wird von der italienischen und der internationalen presse gefeiert.
LE CONSEGUENZE DELL’AMORE erhält zahlreiche Auszeichnungen, u. a. fünf Auszeichnungen des David di Donatello-Preis: als bester Film, beste Regie, bestes Drehbuch, bester Hauptdarsteller und beste Kamera.
Drei Jahre später wird mit L’AMICO DI FAMIGLIA erneut ein Film von Paolo Sorrentino für den Wettbewerb in Cannes ausgewählt.
2008 ist er abermals im Wettbewerb von Cannes vertreten und wird mit dem preis der Jury für IL DIVO ausgezeichnet. Dieser erhielt außerdem sieben Donatellos (u. a. für bester Hauptdarsteller und beste Kamera) und wurde mit einer Oscar-Nominierung geehrt.
2010 löst Paolo Sorrentino mit seinem ersten in englischer Sprache und komplett außerhalb seines Heimatlandes gedrehten Films CHEYENNE – THIS MUST BE THE PLACE das versprechen ein, welches er mit der Cannes-Sensation IL DIVO vor drei Jahren gegeben hatte.
2013 widmet das Filmfest München dem Regisseur als „einem der prägendsten Filmemacher Europas“ die Retrospektive „Meister der machtvollen Bilder“. Die Werkschau zeigt alle Kinofilme, die wichtigsten Kurzfilme und auch seine Hommage an Rom LA GRANDE BELLEZZA, die ebenfalls in Cannes im Wettbewerb lief.
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Wie kam es zu der Idee, nach der Erfahrung in Irland und den Vereinigten Staaten einen Film zu machen, der so tief in die Abgründe Roms eintaucht?
Ich habe schon lange über einen Film nachgedacht, der Rom zu ergründen versucht: die Widersprüchlichkeiten, die Schönheit, die Szenen, die ich dort erlebt, und die Menschen, die ich getroffen habe. Es ist eine wunderbare Stadt: anregend, aber gleichzeitig voller Gefahren. Mit Gefahren meine ich mentale Abenteuer, die nirgendwohin führen. Am Anfang handelte es sich um ein ambitioniertes Projekt ohne Grenzen. Limitationen habe ich vermieden, bis ich das Element gefunden hatte, das dieses gesamte römische Universum zum Leben erwecken konnte. Und dieses Element war die Figur von Jep Gambardella. Es machte die Filmidee möglich und weniger konfus. An dieser Stelle war mir klar, dass der Moment gekommen war, den zweifellos ambitionierten Film zu beginnen. Nach zwei wunderbaren Jahren, in denen ich zwischen Europa und den vereinigten Staaten pendelte, um THIS MUST BE THE PLACE zu realisieren, war es mir wichtig, mich nicht mehr zu bewegen. Ich wollte meiner Bequemlichkeit nachgeben und einen Job haben, der es mir erlaubt, jeden Abend nach Hause zu gehen. Aber in Wirklichkeit war LA GRANDE BELLEZZA ein anstrengender Film, auch wenn es spannend war, ihn zu realisieren.
Welche Rolle spielte Umberto Contarello beim Drehbuchschreiben?
Ich kenne Umberto seit meiner Jugend, als ich Drehbuchautor sein wollte und er bereits ein anerkannter Filmautor war. Er hat mich eingearbeitet – wie Antonio Capuano auch. Er hat mich in eine poetische Welt eingeführt, und ich hatte dann später die Möglichkeit, meine ganz eigenen Welten zu rekonstruieren. Aber de facto haben wir eine sehr ähnliche Art, Dinge zu empfinden – und dies schon seit über 20 Jahren. Unsere Arbeitsweise ist ziemlich einfach. Sie besteht darin, dass wir uns regelmäßig unterhalten. Manchmal flüchtig, manchmal tiefgründig. Das kommt auf die Anregungen an, die das tägliche Leben für uns bereithält. Das können auch kleine Dinge sein oder einfach das unbändige Bedürfnis, dem anderen einen Witz zu erzählen, der ihn zum Lachen bringt. All das kann uns dazu bringen, uns zu schreiben, zu telefonieren oder uns zu sehen. Wenn der Prozess des Schreibens beginnt, trennen wir uns. Wie in einer langen pingpong-partie schicken wir uns die Drehbücher hin und her. Ich schreibe die erste Version und schicke sie ihm. Er schreibt die zweite Version. Ich die dritte. Und so weiter – bis zu den Dreharbeiten, da ein Drehbuch permanent verbessert werden kann. Das Wort „Ende“ existiert beim Schreiben nicht.
Hinsichtlich der Regie scheint dieser Film weniger überladen zu sein als die vorherigen.
Vermutlich. Es ist von vornherein ein „voller“ Film. In der Vorbereitungsphase fiel mir die visuelle Überladung auf, die durch die Arbeit an der Kulisse, den Kostümen und der großen Anzahl an Schauspielern zustande kam, die aber für die Handlung wichtig waren. Als ich mit den Dreharbeiten begann, habe ich versucht, ein wenig Abstand zu gewinnen und entschied, die Dichte des Films mit der Regie nur zu begleiten.
In gewisser Hinsicht könnte der Film „Sorrentino Roma“ heißen. War die Idee, sich an LA DOLCE VITA zu orientieren, der Ansatzpunkt für den Film? Wie auch in Fellinis Film, ist der Protagonist vor allem Beobachter.
Im Grunde habe ich schon in LE CONSEGUENZE DELL’AMORE und THIS MUST BE THE PLACE eine ähnliche Erzählstruktur genutzt. Der Protagonist des Films ist erst einmal Beobachter der äußeren Welt, die dem Film zugrunde liegt. Dann beginnt er nach einigen Umwegen, zufällig oder oft nach einem Schicksalsschlag, eine persönliche Geschichte zu leben. bei LA GRANDE BELLEZZA konnte ich es nicht anders machen, weil der Film im Kern eine enorme Masse von verknüpften Ereignissen, kleinen Charakteren und Anekdoten beinhaltet, die sich alle um Rom drehen und die ich alle in den Film einbringen wollte. Natürlich sind ROMA und LA DOLCE VITA Werke, die man nicht ignorieren kann, wenn man an einem Film arbeitet, wie ich ihn machen wollte. Es sind zwei Meisterwerke und eine Grundregel besagt, dass man sich Meisterwerke zwar ansieht, sie aber nicht imitiert. Ich habe versucht, mich daran zu halten. Aber es ist auch klar, dass Meisterwerke unsere Art und Weise, die Dinge zu fühlen oder wahrzunehmen, verändern. Sie konditionieren uns, ob wir wollen oder nicht. Ich kann nicht leugnen, dass diese beiden Filme einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen haben und meinen Film vielleicht beeinflussen. Ich hoffe nur, dass sie mich in die richtige Richtung geführt haben.
Die Tatsache, dass der Protagonist – Toni Servillo – älter ist als Marcello Mastroianni, ändert natürlich die Natur der Handlung: Die Verzweiflung in Bezug auf die Kreativität ist größer.
Ein Schriftsteller ist ständig von der Idee beherrscht, auf künstlerischer Ebene vor seiner eigenen Biographie kapitulieren zu müssen. Wenn diese Biographie – wie es bei Jep Gambardella der Fall ist – ständig in die oberflächliche Welt der High Society und des sinnlosen Geschwätzes driftet, wenn alles nicht mehr als Lärm im Hintergrund und bis zur Schäbigkeit hin reduzierter Tratsch ist, dann scheint sogar diese Kapitulation unmöglich. Deswegen zitiert er ständig Flaubert. Währenddessen vergehen die Jahre für Gambardella und seine größte Verzweiflung besteht gerade in der Konsequenz des Alterns. Mit jedem neuen Tag bleibt ihm weniger Zeit, weniger Energie und das Glück scheint verloren – wenn es überhaupt jemals existiert hat. Das vergnügen ist zu einem Mechanismus verkommen, der von Natur aus dem Prinzip des Vergnügens widerspricht. Was ihm bleibt, ist die Verbindung mit einer nostalgischen Unschuld, die er vielleicht mit der momentanen Form von etwas anderem assoziiert. Mit etwas, dass sehr weit von seiner eigenen Geschichte entfernt ist: Schönheit. Ein beneidenswerter Zustand, der seine Gewohnheiten völlig unerwartet in eine andere Richtung lenkt und sie durch Suspension und Stille ersetzt. Deswegen nimmt seine Begegnung mit der Nonne, die ihr Leben der Armut widmet und auf diese Weise der Glückseligkeit nahe ist, auch erst einmal den gewohnten Lauf seines lockeren und respektlosen mondänen Lebens. Aber letztendlich führt sie ihn durch ihre Einfachheit woanders hin. Nicht so weit, dass er fähig wäre, sein Leben zu ändern, aber immerhin hilft sie ihm, den beginn eines neuen künstlerischen Schaffens für einen flüchtigen Moment lang zu erkennen.
Ist die Präsenz eines Kardinals, der nur mit Kochrezepten beschäftigt ist, eine Kritik an der Kirche?
Es ist eher eine Kritik an der Propagierung von Essenskultur, von gastronomischer Küche und so weiter. Manchmal scheint es, als ob wir über nichts anderes sprechen könnten. Ich finde das Argument amüsant: die tyrannische Arroganz einiger Leute, die bestimmte Themen unbedingt durchsetzen wollen. Aber gleichzeitig beginnt es auch mich zu langweilen. Darum wollte ich – teils aus Spaß – diesen Trend aufzeigen, der sogar an unerwarteter Stelle auftaucht – nämlich bei denen, die der Spiritualität verschrieben sind.
Luca Bigazzis großartige Farbaufnahmen schaffen einen Widerhall der Schwarz-Weiß-Arbeit von Otello Martelli.
Meine Verbindung zu Bigazzi besteht nun schon seit Langem und ist inzwischen etabliert. Ich vertraue ihm hundertprozentig. Und wir haben das Glück, uns ohne Worte zu verstehen. Daher gab ich Luca das Drehbuch und ließ ihn die Schwerpunkte interpretieren und ausarbeiten. Er weiß, dass ich es bevorzuge, ganz neue Wege zu gehen, anstatt sich immer wieder auf das zu berufen, was wir kennen und schon gemacht haben. Ich denke, dass er genau in diesem Sinne arbeitet. Diese Methode macht mich immer zufriedener. Ich bin froh, seine Vorschläge und Ideen kennenzulernen, ohne ihn vorher zu beeinflussen.
Im Film gibt es viele Anspielungen auf Flaubert und das Gefühl von Leere.
Der großartige Schriftsteller und Regisseur Mario Soldati sagte einmal, dass Rom aus ersichtlichen Gründen die Hauptstadt ist, die es mehr als jede andere vermag, ein Gefühl von Ewigkeit zu kommunizieren. Aber er ergänzte: Was ist das Gefühl von Ewigkeit, wenn nicht das Gefühl von Leere?
LA GRANDE BELLEZZA erinnert an Ettore Scola’s LA TERRAZZA mit dem endlosen Gerede auf der Terrasse des Schriftstellers.
Ja, die Ausstellung von Geplapper, die Zuflucht zur untersten Form von Tratsch, die Fähigkeit, bedeutungsloses zu demonstrieren, auch den engsten Freunden gegenüber, die Desillusionierung und der Zynismus, die gegenwärtig unter der römischen Bourgeoisie verbreitet sind – all dies zeugt ohne Frage von Scolas Universum. Aus diesem Grund wollte ich ihm auch meinen Film zeigen. Ich war sehr bewegt, als ich gesehen habe, wie tief berührt er war. Am Ende der Vorführung strich er immer wieder über das Gesicht und wiederholte, wie sehr ihm der Film gefallen hat. Und ich war nach vielen Jahren von einem Gefühl ergriffen, das ich komplett vergessen hatte: Ich fühlte mich als Sohn.
Es scheint, dass es im Film Bezüge auf andere Filmemacher gibt, ohne dass man von Zitaten sprechen kann.
In der Tat. Meiner Meinung nach ist es kein Film, der Zitate im engeren Sinne verwendet. Aber es ist ohne Frage ein Film, der vielen großen italienischen Filmemachern wie Scola, Fellini, Ferreri, Monicelli usw. verpflichtet ist.
Originalmusik und eine Auswahl an anderer Musik wechseln sich im Film ab. Wie stellt sich die Beziehung her?
Wenn ich über diesen Film nachdenke, mischt sich unvermeidbar Heiliges und profanes – wie es in Rom offen- kundig ist. Ich habe sofort daran gedacht, diese Widersprüchlichkeit der Stadt auch über die Musik zu erzählen. In diesem Sinne war es notwendig, sowohl auf sakrale als auch auf Unterhaltungsmusik zurückzugreifen.
In dem Film spielen viele in Italien sehr bekannte Schauspieler, vor allem Toni Servillo, mit dem Sie bereits vier Filme gemacht haben …
Italien verfügt – egal, was man darüber sagt – über einen Pool an außergewöhnlichen Schauspielern. Sie sind alle sehr unterschiedlich, mit ganz ungleichen Werdegängen, aber mit oft unterschätztem potenzial …
… Sie warten darauf, eine gute Rolle zu bekommen. Deswegen habe ich mich darüber gefreut, sowohl mit Schauspielern zu arbeiten, mit denen ich bereits gedreht habe, aber eben auch mit anderen bekannten Schauspielern wie Carlo Verdone und Sabrina Ferilli, die normalerweise auf ganz andere Rollen festgelegt sind. Aber ich war mir sicher – und dies wurde mir während der Dreharbeiten bestätigt –, dass ein guter Schauspieler alles kann. Wegen der beachtlichen Zahl an Filmrollen konnte ich dieses Mal mit Schauspielern arbeiten, mit denen ich schon lange drehen wollte, die ich aber in meinen vorangegangenen Filmen nicht besetzen konnte, wie zum Beispiel Dario Cantarelli, Roberto Herlitzka, Iaia Forte und Giulio Brogi. Brogi gefiel mir schon immer. Deswegen bedaure ich es besonders, dass ich die lange Szene, in der er Protagonist ist, opfern musste. Das hat aber einzig und allein mit dem Rhythmus des Films zu tun. Toni Servillo ist wirklich ein besonderer Fall. Er ist der Schauspieler, von dem ich alles verlangen kann, weil er in der Lage ist, alles zu tun. Und dem ich blind vertraue – nicht nur beruflich, sondern auch als Freund. Eine Freundschaft, die mit der Zeit immer angenehmer wird – leichter und tiefer zur gleichen Zeit.
Der Film beginnt mit einem Zitat von Céline. Indem Sie diesen Schriftsteller in Erinnerung rufen, nehmen Sie Bezug auf ein Konzept, das das Leben als eine Reise von der Geburt bis zum Tod sieht.
Ja, man könnte annehmen, dass ich dieses Konzept von Leben zu dem meinen mache. Aber das Zitat von Céline aus „Journey to the end of the Night“ ist ebenso die Erklärung der Intention, der ich im Film folge. Damit will ich sagen: Es gibt eine Realität, aber alles ist erfunden. Erfindung ist wichtig für das Kino, gerade um der Wahrheit nahezukommen. Das scheint widersprüchlich zu sein, ist es aber nicht. Fellini sagte einmal: „Kino der Wahrheit? Ich bevorzuge das Kino der Lüge. Die Lüge ist die Seele des Schauspiels. Was authentisch sein muss, ist das Gefühl, das ausgedrückt und empfunden wird.“
(© DCM)
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