Interview mit Judith Hermann

Die Schriftstellerin Judith Hermann mit Emilio Esbardo - Foto: © "il nuovo Berlinese"

von: Emilio Esbardo

Zur Premiere von Judith Hermanns Roman »Aller Liebe Anfang« am 04.09.2014 im Haus der Berliner Festspiele  im Rahmen des internationalen literaturfestivals berlin (10.09. – 20. 09. 14.) veröffentliche ich mein Interview vom Juni 2006 mit ihr erneut.

Viel Spaß beim Lesen


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INTERVIEW MIT JUDITH HERMANN

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Frau Hermann, man denkt, dass die Schriftsteller/innen, bewusst versuchen, Erfahrungen bestimmter Art zu machen, um darüber ein Buch schreiben zu können. Ich meine, Sie verwandeln ihre Erlebnisse, durch den kalten Prozess des Schreibens, in Erzählungen.

Ich glaube ich habe Spuren dieser Suche nach Erfahrung in ihren Büchern gelesen. Zum Beispiel:

„… Sie hatte vielleicht fünfzig Leute eingeladen, ich war mir sicher, dass sie mit den wenigsten wirklich befreundet war. Aber es war eine Zusammenstellung von Gästen, Gesichtern und Charakteren, die dazu führte, dass dieses alte Mietshaus an der Spree sich irgendwann von der Wirklichkeit zu lösen schien…“ ( Sonja, Seite 64)

Sind sie einverstanden, was diese Textstellen und meine Behauptung im allgemeinen betrifft?

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Also es ist auf jeden Fall so, dass das eigene Erleben und die eigenen Erfahrungen ganz deutlich in einem gewissen Verwandelungs-Prozess in den Text einfließen. Ich kann nicht über etwas schreiben, das ich nicht erlebt habe, sondern ich kann nur über Dinge schreiben, von denen ich etwas weiß. Ich muss also einen bestimmten Erfahrungs-prozess durchlebt haben. Ohne etwas zu wissen über einen Zustand, kann ich ihn auch nicht beschreiben. Aber auf der anderen Seite glaube ich, dass man sich davor hüten muss, gezielt bestimmte Erlebnisse zu suchen, um über sie zu schreiben. Ich glaube dass es so nicht funktioniert. Zumindest habe ich es vermieden. Beim ersten Buch musste ich es noch nicht vermeiden, weil das Schreiben des ersten Buches ein sehr besonderer Zustand ist: man weiß von  nichts, man fürchtet sich auch vor nichts. Es gibt so eine Art Unschuld des Schreibens, die später vergeht. Ich habe etwas geschrieben, über die Jahre 1990-1996 in Berlin, mein Erwachsenwerden, mein Älterwerden. Danach beim zweiten Buch, habe ich sehr deutlich gemerkt, dass ich mich nicht so sehr der Wirklichkeit bedienen darf, ich darf nicht losgehen und gucken, könnte diese Erfahrung, dieses Ereignis oder Situation in eine Geschichte einfließen, sondern das muss vorsichtiger und sehr viel bescheidener von Statten gehen. Man muss sich sozusagen still verhalten, wie wenn man etwas fangen will, man darf sich im Grunde nicht bewegen. Man darf nicht hin zu den Dingen, sondern sie müssen zu dir kommen. Ich denke, dass man nicht danach greifen darf.

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Das sind keine Fragen, sondern zwei Behauptungen:

„… Wenn einmal die endlose Versklavung der Frau gebrochen ist, wenn sie für sich und aus sich selbst lebt, da der Mann, – erbärmlich bisher, – ihr den reinen Widerschein ihres Wesens gibt, so wird auch sie Dichter sein! Die Frau wird Unbekanntes finden! Werden die Welten ihrer Seinsgedanken sich von den unseren unterscheiden? – Sie wird fremdartige, unergründliche, abstoßende, kostbare Dinge aufdecken; wir werden sie entgegennehmen, wir werden sie verstehen…“ – Arthur Rimbaud an Paul Denemy; Charleville, 15. Mai 1871

„… Ich atme ein, ich hob die Hände und ließ sie wieder sinken, ich wollte sagen, ich interessiere mich nicht für mich selbst, ich dachte, das ist eine Lüge, ich interessiere mich ausschließlich für mich selbst, und ist es das? dass da nämlich gar nichts ist? nur die Müdigkeit und die leeren, stillen Tage, ein Leben wie das der Fische unter Wasser und ein Lachen ohne Grund? (jetzt kommt der Punkt, an dem ich interessiert bin) ich wollte sagen, ich habe zu viele Geschichten in mir, die machen mir das Leben schwer…“ – J. Hermann: „Rote Korallen“.

Haben sie dazu was zu sagen?

Da muss ich einen Moment nachdenken. Ich freue mich darüber, dass du diese Stelle herausgesucht hast, zitiert hast aus dem Buch, weil sie für mich sehr wichtig ist. Sie ist ein bisschen wie ein Motto für alle Geschichten. Die Geschichte „Rote Korallen“ steht am Anfang des Buches „Sommerhaus, später“. Sätze wie: „ich habe so viele Geschichten in mir, die machen mir das Leben schwer“ usw. sind Beispiele für dieses Motto. Ich will die Geschichten erzählen, um aus ihnen hinaus und fortgehen zu können, was in gewisser Weise der Grund für das Schreiben ist und weil die Person, die da spricht in diesem Moment, etwas wie mein alter Ego ist. Das gilt für alle Geschichten. Deswegen steht das am Anfang und ist mir so wichtig. Ich empfinde das Schreiben, ohne ideologisieren zu wollen, als eine Möglichkeit etwas aufzuschreiben, zu manifestieren um dann loszulassen und zu etwas Neuem übergehen zu können. Also ein Leben, das immer sehr auf eine Vergangenheit, auf Vergangenes gerichtet ist und sich beschäftigt mit dem, was war. Und dann schreibt man es auf, ein Fixierungsprozess sozusagen und dann kann man weitergehen. Ungefähr so… 

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Im Bezug auf den Prozess des Schreibens: Ich glaube dass die Schriftsteller/innen, ab und zu Spuren von sich selbst in ihre Erzählungen einfügen. Zum Beispiel, haben Sie in einigen Interviews erklärt, dass sie sich nicht gern fotografieren lassen, weil ihre Fotos wie Madonnenbilder wirken. Auf Seite 56 kann man lesen:

„…Sie war überhaupt nicht schön. Sie war in diesem allerersten Moment alles andere als schön, wie sie dastand, in einer Jeans und einem weißen, zu kurzen Hemd, sie hatte schulterlanges, glattes, blondes Haar, und ihr Gesicht was so ungewohnt und altmodisch, wie eines dieser Madonnenbilder aus dem 15.Jahrhundert, ein schmales, fast spitzes Gesicht…“

Ich verstehe die Erzählung so, dass die Schriftstellerin Judith Hermann versucht, die Frau Judith Hermann zu beschreiben. Was sagen Sie dazu?

Es stimmt, aber es stimmt nicht ganz. Es ist so, dass ich versuche, eine Romanfigur zu schreiben, die in gewisser Weise etwas mit mir zu tun hat, aber in der Hinsicht, dass sie nicht so ist wie ich, sondern wie ich gerne gewesen wäre, aber nie war. Ich beschreibe also eine Wunschvorstellung von mir selbst.  Die Sonja ist ja so eine seltsame Person, sie ist in allen Dingen extrem eigen und sehr konsequent und störrisch…. Das sind alles Sachen, die ich niemals konnte, aber von denen ich mir immer gewünscht habe, sie zu können. Es ist also das Schreiben einer Figur, die so sein soll, wie ich gerne gewesen wäre.

Das Buch Sommerhaus, später

Die Generation, die im Osten aufgewachsen ist, die so genannte „Zonen Kinder Generation“, das sind Autoren wie Jana Hensel, Jana Simon, Andreas Gläser, Jakob Hein und so weiter. Aber auch Ausländer wie Kaminer oder Yadé Kara erwähnen immer wieder die Mauer und die Teilung Deutschlands. Im Gegensatz dazu scheint dieses Thema den Schriftstellern der westlichen Generation nicht so wichtig zu sein, als dass sie dies in ihren Büchern thematisieren würden.

Ingo Schulze, der DDR-Schriftsteller, hat einmal über die DDR gesagt: „Die DDR gibt es nicht, das Land ist von der Landkarte verschwunden“. Es ist ja eigentlich so simpel, dass man sich gar nicht traut, es zu sagen: Es gab einen Systemwechsel. Ich bin in dem kapitalistischen System groß geworden und nach dem Mauerfall blieb es natürlich ein kapitalistisches System. Das kommunistische System der DDR ist es sicherlich, das einen gewissen Identitätsverlust erlebt hat… Damals 1990 gab es gewisse emotionale Situationen und ich weiß noch sehr gut, dass  mir das nicht egal war. Im Gegenteil, das hat mich alles sehr stark berührt…

Der Fall der Mauer kommt insofern in meinen Geschichten vor, dass es eine bestimmte Stimmung nach dem Mauerfall gab, eine Aufbruchsstimmung, eine Euphorie und eine große leere Fläche. Es gab viele Möglichkeiten, es gab viele offene Fragen. Was wird aus dem neu zusammengefügten Deutschland? Was wird aus Berlin? Was wird aus den Generationen, die an einem Wendepunkt ihres Lebens stehen und die sich  in einem neuen System zurechtfinden müssen?…

Diese Fragen haben mich schon sehr beschäftigt. Dass es mir mein Leben unter den Füßen weggerissen hätte, kann man jedoch nicht sagen.  

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In „Sonja“, erwähnen Sie ein paar Mal die Türken. Zum Beispiel:

„Ich erzählte von Dänemark, von den Türkenjungs in meinem Hinterhof“ – (Seite 60).

Man kann nicht leugnen, dass die Türken und die türkische Kultur (vor allem in der Literatur und im Film) einen starken Einfluss in Berlin haben. Wie ist ihr Verhältnis mit ihnen?

Ich bin in Berlin Neukölln groß geworden und das ist ein Bezirk, der in den 80er Jahren zunehmend von diesem „multikulturellen Miteinander“ geprägt worden ist. Ich habe bis zum Ende der 80er Jahre in Kreuzberg gelebt. Jetzt wohne ich in Prenzlauer Berg und da gibt es ja eigentlich nur Leute wie dich und mich und das ist schade. Es gibt jetzt in meinem Hinterhof keine kleinen Jungs, die Fußball spielen würden.

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Es sind nicht nur die Türken, die einen starken Einfluss auf Berlin gehabt haben, sondern auch die Russen. Und zufällig finden wir Russland in der Erzählung „Rote Korallen“. Wie ist ihre Beziehung zu Russland?

Es ist ein bisschen wie ein Traum, ein bisschen kindlich vielleicht. Ich bin niemals in Russland gewesen. Es ist ein großer Wunsch, einmal nach Russland zu reisen… Die Wolga und all diese Dinge… Sehnsucht, im Grunde. (Haben Sie russische Verwandtschaft?Nee…

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Erst seitdem ich in Berlin angekommen bin (vor etwa einem Monat), habe ich Ihre Erzählungen richtig verstanden. Ich meine, ich habe gespürt, was Sie erzählt haben. Ich habe mir mehrmals gesagt: Ja, was Judith Hermann geschrieben hat, stimmt.“ Jedes Mal wenn ich in den Strassen Berlins herumlaufe, denke ich an Ihre Erzählungen. Wie erleben Sie Berlin? Genauso wie Sie es erzählen, oder ist es anders? Haben Sie manchmal darüber nachgedacht, irgendwo anders zu leben?

Ich bin so verwachsen mit Berlin. Ich habe immer gehofft, ich würde einmal unter den Linden entlang fahren und das so sehen, wie jemand, der zum aller ersten Mal nach Berlin kommt. Das kenne ich überhaupt nicht. Das ist irgendwie schade. Ich bin nur einmal weg gewesen, ein halbes Jahr in New York. Ich hatte viel Heimweh nach Europa, vor allem nach dem, was man im Deutschen immer das alte Europa nennt. Und irgendwie wusste ich, dass ich dann nicht noch einmal wirklich weg will, ich kehre immer zurück. Ich könnte nicht innerhalb von Deutschland umziehen, ich könnte nicht nach Hamburg gehen, ich könnte nicht nach München gehen. Ich würde Berlin wirklich vermissen. Ich war in Paris und ich finde Paris grässlich. Das alles, was hier eben nicht schön ist, dieses unfertige und provisorische, die Leerstellen, die es erstaunlicher Weise immer noch gibt, die Unfreundlichkeit der Berliner, der lange Winter,  ich finde es gut, weil ich nun seit 35 Jahren hier bin. Das hat mich schon geprägt. Je älter ich werde, desto mehr verstehe ich auch dieses Gefühl für den Begriff „Heimat“. Dieser Alexanderplatz zum Beispiel, viele Leute finden ihn „sehr Berlin“.

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„Danach fuhren wir fast immer mit dem Taxi herum. Stein hatte für jede Strecke eine andere Musik, Ween für die Landstrassen, David Bowie für die Innenstadt, Bach für die Alleen, Trans-AM nur für die Autobahn…“ (Sommerhaus später, Seite 142).

In vielen Büchern der dreißigjährigen Autor/innen ist die Musik sehr bedeutend, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa und Amerika. Zum Beispiel „High Fidelity“ und „About a boy“ von Nick Hornby. Können Sie mir bitte erklären, wie die Musik Sie und ihre Generation geprägt hat? Welche Bands oder Sänger prägten ihrer Meinung nach die Generation Golf?

Das weiß ich nicht, weil ich immer gar nicht genau weiß, was das sein soll, eine Generation, erst recht nicht, was die Generation Golf sein soll. Natürlich soll es die um die 70er Jahre geborene Generation meinen, aber ich finde es schwer und der Generationsbegriff ist so weit gefasst. Ich habe immer versucht, mich dem zu entziehen. Ich fühle mich auch nicht einer Generation zugehörig. Und was meine Generation, wenn es sie denn gibt, musikalisch geprägt hat, weiß ich nicht. Musik hören, in bestimmten Situationen, das bedeutete etwas zu haben wie einen Soundtrack für das eigene Leben: Man steigt ins Auto mit Freunden und fährt los und dann legt man eine Kassette in den Autorekorder und dann entsteht ein gewisses Gefühl. Die Musik transportiert ein Lebensgefühl. Und das ist wie Filmmusik. Es ist, als ob man in seinem eigenen Film sitzt. Und das kann man ziemlich lange machen. Irgendwann hört es auf. Jetzt kann ich es nicht mehr. Es ist richtig weg. Es ist so eine Alterserscheinung, möglicherweise. Heute sitze ich im Auto und höre keine Musik mehr. Damals bin ich durch die uckermärkischen Allen gefahren und habe Tom Waits gehört und ich hatte das Gefühl, dass ich gar nicht die bin, die ich bin. Ich bin jemand anderes. Die Musik und das Autofahren entledigte einen immer für kurze Zeit der eigenen Identität. Mich hat Tom Waits geprägt, mich haben die Beatles geprägt.  Das war jedenfalls die Musik, die ich geliebt hab, und das war bestimmt nicht unbedingt zeitgemäß. Florian Illies würde vielleicht doch sagen, es sei Depeche Mode gewesen, 1986 oder so. Das kann man, glaube ich, nicht verallgemeinern. Aber zu verallgemeinern ist der Zusammenschluss von Musik und dem eigenen Leben, der so lange möglich ist, wie das Leben offen ist. Je älter man wird, desto mehr schließen sich bestimmte Dinge. Dann kriegt man ein Kind und ist ohnehin ganz verwurzelt, vielmehr verwurzelt als einem vielleicht lieb ist. Dann hört man auf, Musik zu hören, jedenfalls auf diese bestimmte Art und Weise. Ich weiß noch diese Zeit, als es dann einen Walkman gab und man sich diese Dinger aufsetzen und durch die Stadt gehen konnte, das war doch eine Veränderung des Zustandes, oder? Man setzte sich diese Kopfhörer auf, war abgeschottet von der Außenwelt mit der Musik und ging eine Straße entlang und die Straße war eine andere. Die Menschen, die dir begegnet sind, waren andere und du bist in einem anderen Schritt gegangen, als du es ohne diese Musik getan hast, und das war filmisch. Und ich weiß, dass ich beim Schreiben manchmal gedacht habe, dass ich es mir jetzt ein bisschen leicht mache: Ich könnte beschreiben, wie es ist, in dem Auto zu sitzen, in dem man irgendwie liegt und durch eine Allee zu fahren und rechts und links blühen die Kornfelder und ich könnte erzählen, wie es riecht und wie der Himmel aussieht und wie das Auto aussieht und wie es mir geht. Aber ich kann einfach auch schreiben: „Wir fuhren diese Allee entlang und hörten Trans AM.“ Und wenn man weiß, wie Trans AM klingt, dann weiß man auch, wie es ist. Also es war eigentlich leicht gemacht, ein Trick. Heute würde ich versuchen zu sagen, wie genau es gewesen ist auch auf die Gefahr hin, dass es entgleitet. Raymond Carver hat das einmal gesagt: „Don’t tricky“.  Im „Sommerhaus, später“ ist es ganz schön tricky.

Das Buch Nichts als Gespenster

Die einzige politische Frage. Als Papst Johannes Paulus II gestorben ist, hat die Kirche behauptet, dass ohne diesen Papst die Mauer nicht gefallen wäre, oder zumindest erst später gefallen wäre. Was denken Sie darüber?

Ehrlich gesagt ist mir das ein bisschen peinlich. Ich hab diese Äußerung noch nicht gehört, dass ohne den Papst die Mauer nicht gefallen wäre. Das erstaunt mich. Ich bin ein bisschen beschämt, denn möglicherweise stimmt es und ich habe es nicht gemerkt. Ich weiß es nicht. Berlin ist nicht katholisch, das stimmt auf jeden Fall. Berlin ist, wenn überhaupt, protestantisch, aber auch das scheint es mir nicht zu sein. Ich war beispielsweise in Warschau und ich würde sagen, dass Warschau eine geradezu katholische Stadt ist, und das merkt man auch  im ganzen Stadtbild und in den übervollen Kirchen und den Sonntagsprozessionen, in denen die Kinder getauft werden. Aber Berlin ist eine Stadt, die sich über viele andere Dinge definiert, nicht jedoch über den Katholizismus und auch nicht die protestantische Kirche, sondern vielmehr über Politik und über ihre Zerrissenheit und ihre getrennte Zeit. Ich selber bin nicht religiös groß geworden, habe jedoch als Kind eine starke Neigung zum Katholizismus entwickelt. Mir ist die katholische Kirche sehr nahe, was möglicherweise an ihren Ritualen liegt. Wenn ich in Italien bin und sehe, wie die Kirche in den Alltag eingebunden ist, beeindruckt mich das. Ich wünschte mir, dass das hier auch manchmal so wäre. Aber es ist nicht so. Berlin ist keine katholische Stadt, nein.

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Nach LSD, abgebrannte Jointstummel, zum Sonnenuntergang auf Speed aufgebrochen, gottverdammtes Gras und Extasy, was ist aus der apolitischen unreifen Generation Golf geworden. Wie wird Judith Hermann, die inzwischen ältere Generation in ihren zukünftigen Bücher beschreiben?

Das ist etwas, was ich natürlich noch nicht sagen kann. Einerseits wäre ich froh, wenn ich das wüsste, andererseits möchte ich es gar nicht wissen. Fakt ist, dass ich es nicht weiß. Es gab einmal ein sehr schönes Gespräch mit Günther Grass, der zu einer sehr politischen Generation von Autoren gehört (im großen Unterschied zu meiner Generation der Schriftsteller, die nicht das politische Podium bestiegen haben und die die Rolle des Schriftstellers grundsätzlich auch als eine nicht politische Rolle begriffen haben). Der Schriftsteller muss sich politisch äußern. Der Schriftsteller hat die Pflicht zur Repräsentation eines politischen Bewusst-seins. Das ist ja sehr typisch für diese Generation der neuen deutschen Literatur, dass sie eben vordergründig nicht politisch ist. Wobei es zum einen natürlich auch den ganz einfachen Satz gibt: „Apolitisch ist auch politisch“, was stimmt. Und zum anderen sagte Grass in diesem Gespräch, in dem es eben genau um diese Frage ging und in dem ich mich ein bisschen beschämt darüber geäußert habe dass ich nicht politisch bin: „Früher oder später werden Sie es sein. Es wird ihnen nichts anderes übrig bleiben.“ Das klang sehr väterlich und ich denke, dass er wahrscheinlich recht hat. Wenn man ein Schriftsteller bleibt und sich die politische Lage verändert, und möglicherweise wird sie sich besorgniserregend verändern, wird man, ob man will oder nicht, ein politisches Podium besteigen, das man sich jetzt noch gar nicht vorstellen kann. Vielleicht ist es das Vorrecht der Jugend und derer, die in dieser Zeit geboren sind (1970-80), über diese Jahre so zu sprechen. Es waren Jahre, in denen wir ja eigentlich vollkommen verschont geblieben sind von den schrecklichen Zeitläufen. Das einzige historische Ereignis, das sich in meinem Leben ereignet hat, war der Fall der Mauer und das ist ein positives Ereignis, ein historischer Glücksmoment. Dann kommen vielleicht auch noch andere Ereignisse, die einen direkten Einfluss auf mein Leben haben werden und dann werde ich möglicherweise auch anders schreiben. Es ist so ein weites Feld. Ich denke zum Beispiel an den 11 September und all diese Sachen. Nun kann man sich fragen: Hat der 11. September einen Einfluss auf mein Leben gehabt? Ja und Nein. Ich bringe jeden Abend mein Kind zu Bett und bin mir an vielen Abenden sehr deutlich bewusst, dass mein Kind in einer friedlichen Zeit groß wird und ich keine Angst haben muss. Das erstaunt mich und das erfüllt mich auch mit einer gewissen Dankbarkeit. Und gleichzeitig auch mit Ratlosigkeit darüber, wie es in einem anderen Teil der Welt ist. Aber ich bin hier. Und wie das in der Zukunft sein wird, weiß ich nicht. 

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Möchten Sie zum Schluss noch etwas sagen?

Als ich mit dem Zug von der Toskana nach Rom gefahren bin, da bin ich durch eine relativ menschenleere, trostlose Gegend gefahren: verlassene Dörfer,  Landflucht und so etwas, kaputte Industrieanlagen… Und dann gab es ein Haus und an diesem Haus gab es ein großes Graffiti. Das hieß ungefähr: „Marta! Mi manchi“. Marta, du fehlst mir. Zum einen fand ich es ganz toll, dass man das versteht. Ich kann kein Italienisch. Aber es war so eindeutig. Es konnte nichts anderes heißen. An der ganzen trostlosen Strecke des Zuges war an diesem einen kleinen Haus ein absolut poetisches Moment und das kam durch diese Alliteration: „Marta mi manchi“. Dieses abgelegene Dorf und die ganze Geschichte, die dahinter steht, daran erinnere ich mich, wenn ich an Italien denke. Und das ist vielleicht auch ein schöner Umkehrschluss zum Anfang unseres Gespräches. Also die Geschichten, die man eben nicht suchen darf, die einfach kommen müssen. Vielmehr auch Gefühlsmomente, aus denen dann eine Geschichte entsteht.  Dieser Satz, „Du fehlst mir“, an diesem kaputten Haus in diesem verlassenen Dorf, selber im Zug sitzend, auf dem Weg von einem Ort zum anderen, löst etwas in mir aus. Möglicherweise einfach Sehnsucht nach einem anderen Leben. Das vergesse ich ganz lange nicht. Und später irgendwann kommt es vielleicht in eine Geschichte.

Es gibt diese Band, die heißt die Puhdys. Eine in der DDR legendäre Band. Eine große wichtige Musikgruppe, die sehr viele sehr pathetische und kitschige aber auch sehr kraftvolle Stücke geschrieben haben. Es gibt einen ganz berühmten Film der heißt: „Die Legende von Paul und Paula“. Es ist einer der größten Liebesfilme, die es in der DDR gegeben hat, wenn nicht einer der größten Liebesfilme überhaupt. Ein DEFA Film aus den 70er Jahren. Drehbuch und die Texte der Filmmusik stammen von Ulrich Plenzdorf und die Filmmusik ist von den Puhdys. Dieser Film war auf jeden Fall identitätsstiftend für die DDR und für mich dann später auch. Da gibt es eben auch dieses Lied: „Geh zu ihr und lass deinen Drachen steigen“. Ich habe es in die Geschichte hinein genommen, um deutlich zu machen, dass dieses Haus im ehemaligen Osten steht, dass dieses Haus ein Haus ist, was in der DDR steht und dass die Leute, die in diesem Haus ihre Graffiti hinterlassen, eine DDR Vergangenheit haben. Es sollte etwas sein wie ein Code-Wort. Entweder man erkennt es und dann freut man sich, oder man erkennt es nicht, dann ist es nur so ein Satz. Es gibt auch eine schöne Geschichte zu diesem Lied. Ein Freund von mir hat gesagt, er habe 20 Jahre alt werden müssen, bis er verstanden hätte, was es überhaupt heißt: „Geh zu ihr und lass…“ Er hätte immer gedacht, ein Mann gehe zu einer Frau und sie gehen zusammen auf ein Feld und lassen einen Drachen steigen. Er habe ganz lange gebraucht, bis er verstanden hätte, dass es eine Metapher für die Liebe sei. Das fand ich toll.  

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